Die Straße der Farben
Es ist einer dieser ersten ungemütlichen Herbstabende – grau, kalt, Nieselregen bis unter die Haut. Den ganzen Tag war es dunkel. Jetzt wird es noch dunkler. – Wie geht das denn?
„Wer jetzt kein Haus hat.“ * — Oh, oh!
Ich zünde Kerzen an.
Dann male ich mit rotem Wachsstift
einen Sonnenuntergang auf die Fensterscheibe: Ein Strich der Horizont.
Ein Bogen die untergehende Sonne – rot ausgemalt. Für die Strahlen noch
gelb und orange. Fertig!
Wie ich diese Sonnenuntergänge kenne, wie einmal gelerntes Gedicht. Irgendwo in meiner Kindheit begann ich sie aufzulesen. Sie sind das Schönste, was ich kenne,- wie eine Kraft, die alles in mir ausfüllt:
Das Licht zerfließt am Horizont und löst sich auf. Ich bin noch da, nur woanders…
Ich öffne die letzte Flasche Sommerwein.
Ach! – Wie der schmeckt. —- Der Sommer.
Ich setze mich an meinen Tisch
auf die Arbeitsseite.
Nicht auf die Seite zum Faulsein.
Vor mir liegt ein großes weißes Blatt Papier.
Ich streiche mit der flachen Hand darüber.
– Atme ein und aus.
Ich nehme meinen Stift zur Hand.
Schalte noch kurz das Radio ein, wo eben ein Lied verklingt und eine rauchige Wisky- Stimme zu sprechen beginnt:
Das Schiff ist noch nicht abgefahren.
Es liegt am Kai, ruhig und bereit.
Alle sind an Bord.
Du bist der letzte Passagier,
bevor das Schiff in See sticht.
Du packst erleichtert und gelassen deine Sachen.
Lässt los, gehst zum Hafen, an Bord.
Der Anker wird gelichtet, das Schiff legt ab.
Du bist unterwegs.
Du bist zuhaus.
Die Worte des Sprechers hallen in mir nach und ich weiß: Heute wird die Sraße der Farben eine Seestraße sein. Daß mich das freut, wundert mich nicht.
„Ich liebe die See
und sie liebt mich auch.
Hörst du, wie sie nach mir brüllt.
Ich hätte“ bei ihr leben „sollen,-
das ist, was sie mir klarmachen will.“ **
Darauf einen großen Schluck Wein!
Denn —- alles hat seine Zeit.
Ich setze den Stift auf’s Papier
und folge ihm in die Nacht.
Weit hinaus. Weit hinaus ins Freie.
Das Kerzenlicht zerfließt am Horizont des Sonnenuntergangs auf meinem Fenster und löst sich auf.
Ich bin noch da.-
Nur unterwegs auf der Straße der Farben.
Steffen Leischner
8. Oktober 2019
(* Rainer Maria Rilke, ** Sven Regener)